Individueller Mobilitätsmix ist die Zukunft des ÖPNV

Vor Corona schien die Verkehrswende hin zu mehr öffentlichem Nahverkehr und weniger Autoverkehr in greifbarer Nähe zu sein. Nach dem coronabedingten Einbruch der Fahrgastzahlen und dem Unsicherheitsgefühl der Kunden im ÖPNV erscheint der Ausgang wieder offen. Beim Versuch den Nahverkehr zu stärken wird die Digitalisierung als ein entscheidender Baustein betrachtet. Nahverkehrs-praxis sprach darüber mit Dr. Jürgen Greschner, Geschäftsführer der INIT GmbH, in einem exklusiven Online-Interview.

Nahverkehrs-praxis: Die Coronakrise hat einigen Unternehmen – auch aus der Verkehrsbranche – große Existenzprobleme beschert. Wie ist INIT durch diese Phase gekommen?

Dr. Jürgen Greschner: Für die Einhaltung von Hygiene- und Abstandsregeln verfügt INIT über einige Produkte, die Verkehrsunternehmen unterstützen können. Diese Produkte werden nun verstärkt nachgefragt, und es kam bereits zu zusätzlichen Aufträgen. Demgegenüber sind die direkten negativen Auswirkungen in Projekten, bspw. bei der Fahrzeuginstallation, sehr gering. Wir haben auch zu Beginn negative Auswirkungen bei der Personalakquisition verzeichnet, das hat sich allerdings mittlerweile verbessert und wir erhalten wieder mehr Bewerbungen. Die Einarbeitung ausländischer Mitarbeiter gestaltet sich allerdings schwieriger, da Reisen ins Stammhaus Karlsruhe zurzeit immer noch nicht möglich sind. Aber insgesamt können wir sagen: Toi, toi, toi, bisher sind wir sehr gut durch die Krise gekommen.

Nahverkehrs-praxis: Im „Aktionsplan Digitalisierung und Künstliche Intelligenz in der Mobilität“ des Bundesverkehrsministeriums ist davon die Rede, dass die Trennung zwischen öffentlichem Verkehr und Individualverkehr künftig immer mehr verschwimmen wird. „Wir werden mit einem Klick in der App alles Mögliche vom E-Scooter bis zur S-Bahn kombinieren können und von Tür zu Tür mit einem individuellen Mobilitätsmix reisen.“ Ist das in Coronazeiten immer noch eine realistische Vorstellung, oder schätzen Sie das anders ein?

Dr. Jürgen Greschner: Ich denke, Corona wird diesem Trend eher noch einen Kick geben. Zukünftig werden wir in den Apps auch Informationen zum Besetzungsgrad eines ÖPNV-Fahrzeuges finden, so dass Fahrgäste sehen können, ob der geplante Bus voll oder die Bahn überfüllt ist. Sie können dann mit derselben App einfach eine andere Alternative wählen und z.B. auf individuell nutzbare Angebote wie Leihfahrräder umsteigen. Daneben erfolgt die Bezahlung in solchen Apps bargeldlos, auch das ist ja heute mehr denn je erwünscht.

Nahverkehrs-praxis: Damit der Öffentliche Personenverkehr eine wirkliche Alternative zum Auto werden kann, muss er viel stärker digitalisiert werden. Diese Aussage liest und hört man häufig, ohne das näher erläutert wird, was das genau bedeuten soll. Was umfasst Digitalisierung in dem Zusammenhang alles?

Dr. Jürgen Greschner: Ich stelle mir Pay-as-you-go für Mobilitätsdienste vor: Ich bekomme aus der Mobilitäts-Cloud umfassende Informationen zu allen zur Verfügung stehenden Mobilitätsdiensten: Wo ist die Haltestelle, wann kommt die Bahn, wo steht das Fahrrad, wie ist die Wegekette, ist der Bus voll, gibt es einen Stau? Dann rufe ich die Dienste ab, die ich gerade benötige. Das machen wir gerade in Regiomove zusammen mit dem KVV im Pilotbetrieb und ab Herbst im Echtbetrieb.

Wir müssen auch Zugangshemmnisse abbauen. Niemand sollte sich durch einen unübersichtlichen Tarifdschungel kämpfen müssen. Jeder sollte so bezahlen können, wie er oder sie es gerne möchte. Unser Kunde in Portland ist so unterwegs und bietet alles an Bezahlmöglichkeiten an, was es heute gibt: bar, eine eigene gebrandete Public-Transport-Karte, die auch in den Smartphone-Wallets verfügbar ist, Apple Pay, Google Pay, natürlich EMV-Bezahlung (Europay, Master Card, Visa Card – also der Kreditkarten-Standard). Die Bezahlung ist in Portland definitiv kein Zugangshemmnis mehr.

Aber es gibt sicher noch viele neue Möglichkeiten, auch um Arbeitsprozesse weiter zu digitalisieren und zu automatisieren. Einige Beispiele: Der Fahrer prüft vor Fahrtantritt sein Fahrzeug und dokumentiert das heute noch oft auf Papier. Das kann natürlich digital sehr gut unterstützt werden und von der bestehenden Infrastruktur mit übernommen werden, bspw. dem Bordrechner und dem Bedienteil. Der Fahrer füllt sein Formular auf dem Bedienteil aus, es wird dann in einem Workflow digital weitergeleitet, geht nicht verloren, und weitere Maßnahmen werden angestoßen.

Bereits verfügbar ist auch die Technologie, den Disponenten bei seiner Arbeit besser zu unterstützen. Das ITCS kann vorgefertigte Szenarien bereitstellen, die der Disponent mit einem Klick aktiviert. Er muss sich nicht immer wieder von Neuem überlegen, was bei einem Vorfall zu tun ist oder auf seinen „Spickzettel“ schauen. Das kann heute sehr gut unterstützt und voll- bzw. teilautomatisiert werden.

Nahverkehrs-praxis: Der Verband Deutscher Verkehrsunternehmen will ab dem 4. Quartal dieses Jahres das System „VDV-Barcode mobile+“ anbieten, das der schnellen und sicheren elektronischen Überprüfung von HandyTickets dienen soll. Wo liegen da bisher die Probleme, und inwieweit kann diese Technik helfen, die Akzeptanz des ÖPNV bei bisherigen und potenziellen neuen Fahrgästen wiederherzustellen oder sogar zu stärken?

Dr. Jürgen Greschner: Barcode ist heute sicher ein wichtiger Baustein bei Bezahlverfahren. Und wir machen das schon lange. VDV-Barcode mobile+ macht das Ganze sicherer und kann so zur weiteren Verbreitung dieser einfach zu handhabenden Technologie beitragen.

Nahverkehrs-praxis: Wie wird nach Ihrer Einschätzung die digitale Entwicklung im öffentlichen Personenverkehr – inklusive neuer Mobilitätsdienste – vonstattengehen, und was kann Ihr Unternehmen dazu beitragen?

Dr. Jürgen Greschner: Die Verkehrsunternehmen werden sich vom reinen ÖPNV-Anbieter wandeln hin zum Mobilitätsexperten oder Mobilitätsbroker in ihrer Region. Sie werden die Mobilitätsdienste in ihrer Region informationstechnisch bündeln. Ich denke, sie werden zusammen mit ihren Fahrgästen auf eine Reise gehen, von der wir heute noch nicht so ganz genau wissen, wo sie endet.

Und INIT kann hier unterstützen und tut dies im Übrigen bei der Digitalisierung seit 1983. Unser Ziel ist es, die jeweils neusten Entwicklungen im Bereich der IT für die Verkehrsunternehmen und unsere Branche verfügbar zu machen. Wir wollen alles anbieten, was Verkehrsunternehmen an spezieller Software und Hardware für ihren Betrieb brauchen. Das reicht vom ITCS und Zahlungssystemen bis zu Anzeigen im Fahrzeug und an der Haltestelle, Fahrgastzählung und heute natürlich auch MaaS-Lösungen. Das alles bieten wir modular oder in einem integrierten System an.

Und in den ganz neuen Bereichen sind wir natürlich auch dabei:

Heute wird z.B. das autonome Fahren immer mehr Thema, und da sind wir im Bereich der Forschung in einigen Bereichen gut unterwegs. Im Projekt IQmobility zusammen mit Scania gibt unser ITCS dem autonomen Fahrzeug die Route vor. Und unsere Tochterfirma IRIS bestimmt in autonomen Fahrzeugen mit ihren Sensoren den Besetzungsgrad und kann auch Gefahrensituationen automatisch erkennen. Das brauchen wir, denn es gibt ja nicht mehr den Busfahrer, der dies melden könnte.

Nahverkehrs-praxis: Um den ÖPNV digital weiterzuentwickeln, muss viel Geld investiert werden. Sind die vorgesehenen staatlichen Investitionen und Fördermaßnahmen dafür ausreichend, oder was würden Sie sich „wünschen“?

Dr. Jürgen Greschner: Ich denke, es gibt heute einige Mittel für Investitionen in unserer Branche. Allerdings müssen unsere Kunden, die Verkehrsunternehmen, auch organisatorisch und personell in der Lage sein, die Projekte abzuwickeln. Und da sind die meisten doch recht dünn oder neudeutsch „LEAN“ aufgestellt. Da sie sich im Wettbewerb behaupten müssen, müssen sie sehr stark – manchmal zu stark – auf die Kosten achten. Aber auch Verkehrsunternehmen müssen angemessene Gehälter bezahlen können, um die notwendigen Experten auf ihrer Seite zur Verfügung zu haben, die die komplexen Projekte abwickeln und die Systeme auch dauerhaft betreuen können.

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