Gian-Mattia Schucan, Gründer und Geschäftsführer der Schweizer FAIRTIQ AG

Exklusives Online-Interview: Automatisches Ticketing mit FAIRTIQ

Mehrverkehr dank Nutzerfreundlichkeit – speziell in Zeiten von Corona

Um das Infektionsrisiko im öffentlichen Personenverkehr zu minimieren, gilt die verstärkte Nutzung digitaler Vertriebssysteme als eine der wichtigsten Maßnahmen für die Rückgewinnung der die durch die Corona-Pandemie verunsicherten Fahrgäste. Nahverkehrs-praxis sprach u.a. darüber mit Gian-Mattia Schucan, Gründer und Geschäftsführer der Schweizer FAIRTIQ AG.

Nahverkehrs-praxis: Herr Schucan, die Fahrgastzahlen in Deutschland sind aufgrund der Coronakrise drastisch eingebrochen, und die Erholung davon geht sehr langsam voran. Wie ist das in der Schweiz abgelaufen?

Gian-Mattia Schucan: Es ist hier sehr ähnlich verlaufen. Die Fahrgastzahlen gingen im März stark zurück, teilweise bis auf 10 % verglichen mit Vor-Coronazeiten. Jetzt liegen sie bei ca. 70 % im Nahverkehr und ca. 50 % im Fernverkehr.

Nahverkehrs-praxis: FAIRTIQ bietet eine gleichnamige App für den Fahrscheinkauf über das eigene Smartphone an. Wie hat sich die Nachfrage sowohl bei den Fahrgästen als auch bei Verkehrsunternehmen und -verbünden durch Corona geändert?

Gian-Mattia Schucan: Die FAIRTIQ-Zahlen liegen in der Schweiz, wo wir als Unternehmen schon etablierter sind, aktuell über denen des Vorjahres. Die Verwendung digitaler Vertriebskanäle – speziell von FAIRTIQ – hat stark zugenommen, die der klassischen Kanäle wie Fahrkartenautomaten ist hingegen zurückgegangen. Als Beispiel lässt sich die Region Voralberg anführen. Dort ist der ÖPNV sehr buslastig, und die Fahrkarten wurden bisher größtenteils direkt beim Fahrer verkauft. Dort machen wir inzwischen drei Mal so viel Umsatz über FAIRTIQ als noch vor einem Jahr.

Nahverkehrs-praxis: Wie funktioniert die App?

Gian-Mattia Schucan: Der Grundprozess ist – ganz einfach ausgedrückt: App öffnen, Start drücken, einsteigen, fahren soweit man möchte, Stopp drücken und fertig. Es ist ein Check-in-check-out-System, so dass der Kunde uns nicht mühsam seinen Fahrtwunsch erklären muss und wir ihm dann die passenden Tickets vorschlagen, die in Frage kämen. Der Fahrgast zeigt uns durch seine Reisedaten, wie er gefahren ist, und wir optimieren auf Tagesbasis die optimale Kombination von Tickets und Tarifen, die seine Reisen abdecken. In diesem Sinne reden wir von „automatischem Ticketing“.

Nahverkehrs-praxis: Wie und wann erfolgt die Bezahlung der Fahrt bzw. Fahrten, auch wenn der Kunde unterwegs von einem Verkehrsträger zum anderen wechselt?

Gian-Mattia Schucan: Bei einem Verkehrsträgerwechsel muss der Fahrgast nicht aus- und wieder einchecken, das erkennt das System automatisch. Nach jedem Check-out-Vorgang rechnen wir den bis zu diesem Zeitpunkt optimalen Tarif ab und zeigen diesen auf dem Smartphone an. Abgerechnet wird am kommenden Tag um 4 Uhr morgens, wenn wir sicher sind, dass keine weitere Fahrt stattgefunden hat, die tarifrelevant gewesen ist. Zu dem Zeitpunkt wird auch das Zahlungsmittel des Kunden mit der optimalen Kombination von Tickets über den Tag belastet.

Nahverkehrs-praxis: Wird die Check-in-Check-Technik vorläufig noch das System Ihrer Wahl bleiben, oder denken Sie auch schon über Be-in/Be-out nach?

Gian-Mattia Schucan: Wir denken sogar sehr stark darüber nach, wir haben das Ziel diese Möglichkeit anbieten zu können. Es bleibt dann dem Kunden überlassen, ob er das nutzen möchte oder nicht. Unser aktueller Ansatz ist, den Check-out-Prozess laufend zu optimieren, um uns dann nach und nach dem Be-in/Be-out-System zu nähern.

Nahverkehrs-praxis: Welche Vorteile haben Verkehrsunternehmen und -verbünde, wenn sie sich entscheiden, FAIRTIQ anzubieten?

Gian-Mattia Schucan: Das beginnt damit, dass die Investitionskosten deutlich niedriger sind als das bei hardwarebasierten Systemen der Fall ist. Die Verkehrsunternehmen haben natürlich auch den Wunsch, kundenfreundliche Angebote anzubieten, und ein Drittel der Kunden gibt an, dass sie den ÖPNV aufgrund der Einfachheit von FAIRTIQ auch stärker nutzen. Zudem ist es eine sehr flexible Plattform. Es können beispielsweise neue Preismodelle ausprobiert werden, und durch die Fahrten ergeben sich für die Verkehrsunternehmen wertvolle Planungsdaten über das Umsteigeverhalten der Fahrgäste, mit deren Hilfe Liniennetze optimiert werden können.

Nahverkehrs-praxis: Seit 2018 ist Ihr Angebot in der gesamten Schweiz und Liechtenstein verfügbar. In welchen anderen Ländern wird die App noch verwendet, und wie sehen Ihre Planungen für die weitere Unternehmensentwicklung aus?

Gian-Mattia Schucan: In diversen deutschen und österreichischen Regionen sind wir voll operativ tätig, einerseits mit der roten FAIRTIQ-App, aber auch mit einer Reihe von großangelegten Pilotprojekten, die zum Teil auch in weiteren europäischen und außereuropäischen Ländern laufen. Wir gehen von einer schrittweisen Internationalisierung aus, weil die Technik sehr einfach skalierbar ist.

Nahverkehrs-praxis: Wie finanziert Sie sich Ihr Unternehmen?

Gian-Mattia Schucan: Zum großen Teil finanzieren wir uns über die Entgelte unseres Kunden, d.h. der Partner-Verkehrsunternehmen/-verbünden. Als Startup haben wir zudem eine Reihe von privaten Investoren, denen die Verbesserung des Ticketings im öffentlichen Verkehr ebenfalls ein Anliegen ist.

Nahverkehrs-praxis: Viele Kunden möchten sich nicht mehr an ein Abo binden, weil sie momentan entweder öfter von zu Hause aus arbeiten oder Bedenken wegen eines neuerlichen Corona-Ausbruchs haben. Welche Angebote machen Sie diesen Teilzeit-Pendlern, aber auch möglichen Neu – und Gelegenheitskunden?

Gian-Mattia Schucan: Wir befinden uns hier im Moment in einer sehr intensiven Diskussionsphase mit den Verkehrsunternehmen und -verbünden. FAIRTIQ wäre von der Technik her sehr flexibel aufgestellt, um neue Dinge in diesem Kontext auszuprobieren. Seien es Teilzeitabo-Modelle oder das Thema Capping, das momentan heiß diskutiert wird. Als Ticketing-Provider machen wir den Verkehrsunternehmen Angebote und zeigen ihnen auf, welche Möglichkeiten sie hätten. Aber die Tarifhoheit liegt natürlich bei den Verkehrsunternehmen bzw. -verbünden, und wir helfen bei der Umsetzung.

Nahverkehrs-praxis: Wird der Fahrkartenverkauf am Automaten oder per App auf dem Smartphone noch lange parallel laufen, oder wird sich nach Ihrer Einschätzung die digitale Variante letztendlich durchsetzen?

Gian-Mattia Schucan: Beides wird noch eine ganze Weile parallel genutzt werden. Allerdings haben die Ticketautomaten früher oder später ein Ablaufdatum, und das ist relativ eng gekoppelt mit der Frage, wie die Entwicklung beim Barzahlen weitergehen wird. Solange das Bezahlen mit Geld eine wesentliche Rolle spielt, werden Ticketautomaten noch notwendig sein. Aber die Entwicklung geht jetzt schon in die Richtung, dass dort, wo FAIRTIQ bereits länger aktiv ist, Verkehrsunternehmen ihre Automaten um 20-30 % reduziert haben. Selbst in Ländern, in denen das Bezahlen mit Bargeld noch populär ist, hat die Coronakrise dazu geführt, dass immer mehr Menschen auf das bargeldlose Bezahlen umgestiegen sind.

Nahverkehrs-praxis: Sie haben seit 2016 eine Reihe von Preisen in und außerhalb der Schweiz gewonnen. Wofür wurde die App ausgezeichnet?

Gian-Mattia Schucan: Sie wurde in zwei Kategorien ausgezeichnet. Zum einen dafür, dass wir das Ticketing und damit die Qualität des ÖPNV-Angebots auf ein neues Niveau gehoben haben, z.B. beim UITP-Award und bei Transport Ticketing Global und zum anderen dafür, wie wir uns als Start-Up präsentieren und als Unternehmen weiterentwickeln.

Nahverkehrs-praxis: Herr Schucan, vielen Dank für das Gespräch.

Das Interview wurde am 13. August 2020 geführt.

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