Der Verband Deutscher Verkehrsunternehmen (VDV) hat unlängst sein „Leistungskostengutachten 2.0“ vorgestellt, das im Rahmen von zwei Szenarios zeigen soll, wie ein optimierter ÖPNV bis 2040 finanziert werden muss, um leistungsfähig zu sein. Wir sprachen direkt nach seiner Vorstellung in München mit dem Geschäftsführer ÖPNV des VDV Alexander Möller, der schon beim ersten Gutachten aus 2021 persönlich involviert war.
NahverkehrsPraxis: Bei Roland Berger waren Sie seitens der Gutachter verantwortlich für die erste Version des Leistungskostengutachtens. Damit sind Sie doch der perfekte Ansprechpartner, um die konzeptionellen Unterschiede zwischen der Version von 2021 und der neuen Version 2.0, die gerade vorgestellt wurde, zu erläutern?
Alexander Möller: Das nehme ich für mich nicht alleine in Anspruch. Beide Gutachten sind durch die engagierte Arbeit vieler Expertinnen und Experten entstanden, die dazu fundiert antworten könnten. Neu ist im aktuellen Gutachten auf jeden Fall die Tiefe des Zielbildes „Deutschlandangebot 2040“, das sich an sehr konkreten Planungen der Kapazitäten der Aufgabenträger orientiert – hier insbesondere die der kommunalen Aufgabenträger. Neu ist ebenso der Wechsel der Perspektive, die von einer ausschließlichen bundesweiten Betrachtung zu einer bundeslandscharfen Betrachtung übergeht. Diese wird ab Herbst sukzessive in den Ländern unseren Mitgliedern und auch der Politik und Öffentlichkeit vorgestellt – zuerst in Sachsen-Anhalt. Außerdem haben wir erstmals Güteklassen ausgewiesen, um deutlich zu machen, wie ein bestmöglicher ÖPNV in der Fläche aussehen könnte – das hat es bisher in dieser Art nicht gegeben. Im ersten Gutachten hatten wir uns in dieser Hinsicht hauptsächlich auf die geforderte Reduktion des CO2-Ausstoßes zur Erreichung der Klimaschutzziele konzentriert. Damals war ja der Klimaschutz noch der politische Wesenskern dieser Bemühungen um mehr und besseren ÖPNV – beim VDV ist er es mithin immer noch.
NahverkehrsPraxis: Die Darstellung des Gutachtens in zwei unterschiedlichen Szenarien ist ebenfalls neu – was hat es damit konkret auf sich?
Alexander Möller: Genau darin besteht der eigentliche Strategiewechsel. Dazu muss man sicherlich noch einmal in die Entstehungsgeschichte des Gutachtens gehen. Im Rahmen mehrerer für die Branche kostentreibender Ereignisse in den letzten fünf Jahren haben wir uns entschlossen, ein Gutachten zu erstellen, das verschiedene Dinge berücksichtigt – zum Beispiel die allgemeine Haushaltslage des Bundes und der Länder oder die Verschiebung von politischen Prioritäten. Darüber hinaus war uns schnell klar, dass wir keinen „Vogel friss oder stirb“-Ansatz fahren können mit einer einzigen Zahl – wie die 48 Milliarden zusätzlicher Finanzbedarf aus dem ersten Gutachten – sondern einen differenzierten Szenarioansatz brauchen. Tatsächlich haben wir sogar fünf und nicht nur zwei Szenarien durchrechnen lassen! Hinter dem Gutachten steckt also wirklich eine tiefgehende, inhaltlich-fachliche, ja fast schon wissenschaftliche Auseinandersetzung mit den Möglichkeiten des ÖPNV der Zukunft. Unsere Intention war es, als Fachverband der Politik einen ‚Optionenraum‘ aufzuzeigen. Dabei stellt die Mehrkostendifferenz für die jetzt veröffentlichten Szenarien eine gute Bandbreite als Basis für weitere Verhandlungen der Politik zwischen Bund, Ländern und Kommunen dar. Dass wir natürlich unsere Argumentation in Richtung des Modernisierungs-Szenarios „Deutschland-Angebot 2040“ fokussieren, sieht man nicht zuletzt daran, dass wir den Begriff schon seit 2023 und im Rahmen der Einführung des Deutschlandtickets verwendet haben.
NahverkehrsPraxis: Die neu Güteklassen-Einteilung kommt ein wenig wie der sprichwörtliche „Kai aus der Kiste“ gesprungen. Was genau hat es damit auf sich und wie relevant ist sie für die Verkehrspolitik?
Alexander Möller: Die Idee für die Güteklassen ist entstanden, als wir die Ausschreibung für das Gutachten erstellt haben. Es ist sehr schnell deutlich geworden, dass das ein Lösungsweg sein kann für einen Gradmesser von Quantität und Qualität des ÖPNV, den es bisher so noch nicht gegeben hat. Und warum halten wir diese Kennzahl für relevant? Im Grunde genommen ist sie das Ergebnis des gescheiterten Ausbau- und Modernisierungspakts aus der Zeit der Ampelregierung, bei dem wir uns sehr intensiv, aber ohne Erfolg, eingebracht haben. Deswegen hatten wir uns vorgenommen, ein messbares Zielbild 2040 zu formulieren, was in dieser Form sicher revolutionär ist. Wir zeigen der Politik hier einen bundesweiten aber auch für jedes Bundesland runtergebrochenen Weg auf, den sie beschreiten kann. Dabei vergleichen wir jeweils ähnliche Strukturen also Ballungsraum mit anderen Ballungsräumen und den ländlichen Raum mit anderen ländlichen Räumen. Dadurch entsteht ein valides Gesamtbild über Qualität und Quantität des ÖPNV in Deutschland im Jahr 2040.
NahverkehrsPraxis: Warum wird das neue Gutachten gerade jetzt präsentiert? Soll es eine Vorlage für die Planungen des neuen Verkehrsministers fungieren?
Alexander Möller: Wir leisten damit in diesen Wochen einen eigenen Beitrag zur Diskussion zwischen Bund und Ländern zu den Steuerausfällen durch den Innovationsbooster, der ja gerade verhandelt wurde. Und wir denken, dass es genau der richtige Zeitpunkt war und nicht etwa unsere Jahrestagung Ende Juni in Hamburg, auf der wir explizit das Thema „Autonomes Fahren“ fokussiert haben. Außerdem können wir ja nicht verhehlen, dass wir in der breiten öffentlichen Wahrnehmung nicht nur ein Qualitäts- sondern auch ein Innovations-Problem haben. Deswegen haben wir auch Anfang Juni ganz bewusst eine Innovationsagenda im VDV-Präsidium verabschiedet. Ich bin mir sicher, dieses Gutachten wird die verkehrspolitische Diskussion im Themenfeld der öffentlichen Mobilität in den nächsten 12 bis 18 Monaten bestimmen.
NahverkehrsPraxis: Zu den unterstützenden Maßnahmen für einen optimierten ÖPNV nennt das Gutachten auch weitere „restriktive politische Maßnahmen“. Was ist darunter zu verstehen?
Alexander Möller: Unser Ziel ist es, im Rahmen des Szenarios „Deutschlandangebot 2040“ bis zu 80 Prozent mehr ÖPNV zu bieten, wenn der finanzielle Rahmen stimmt, der sich aus staatlichen Zuschüssen, den Fahrgeldeinnahmen und zunehmend auch der Nutzerfinanzierung zusammensetzt. An die sogenannte „dritte Säule“ der Finanzierung, wie sie im Koalitionsvertrag genannt wird, glaube ich dagegen eher nicht. Mir fehlt im Moment die Fantasie, darauf zu setzen, dass eine Drittnutzer-Finanzierung wie eine Arbeitgeberabgabe für den ÖPNV dessen Finanzprobleme lösen kann.
Was aber völlig klar ist: Diese 80 Prozent Steigerung sind nicht machbar, ohne eine deutliche Veränderung im Individualverkehr. Man könnte statt „restriktiven“ auch von „Push-Maßnahmen“ reden. Dabei sprechen wir beispielhaft von Parkraumbewirtschaftung ebenso wie von der Lebensqualität in autofreien Stadtgebieten. Und letzten Endes ist die Frage der individuellen Mobilität auch eine Frage der sozialen Gerechtigkeit. Diese Maßnahmen spielen dann eine bedeutende Rolle, wenn wir über den Erhalt des Status Quo hinausgehen wollen.
NahverkehrsPraxis: Das Gutachten spricht auch vom Nahverkehr als „Pflichtaufgabe der Politik“. Wie genau könnte bundesweit helfen, was ja in Rheinland-Pfalz schon Landesgesetz ist?
Alexander Möller: Volker Wissing hat, aus meiner Sicht, in seiner Zeit als rheinland-pfälzischer Verkehrsminister ein exzellentes ÖPNV-Gesetz gemacht. Allerdings hat er auch damals schon wie später beim Deutschlandticket vergessen, die Finanzierung dafür sicherzustellen. Die Festsetzung der staatlichen „Pflichtaufgabe“ wäre – richtig umgesetzt – ein sehr starker Hebel und zudem eine konsequente rechtliche Begleitung der Güteklassenthematik: eine durchfinanzierte Pflichtaufgabe als potenzieller Teil eines Finanzergebnisses. Ein optimales Ergebnis im Zusammenspiel aus Modernisierungspakt der neuen Regierung und unserem dargestellten Optionsraum „Deutschlandangebot 2040“ könnte dann konkret so aussehen: Der Bund übernimmt dauerhaft gewisse Finanzierungsanteile und dafür sichern die Länder zu, dass die Regionalisierungsmittel, die sie bekommen, zielgenau eingesetzt werden und die Kommunen und Kreise machen den ÖPNV zur Pflichtaufgabe. Das wäre aus meiner Sicht ein perfekter Dreiklang, der es den kommunalen Aufgabenträgern überhaupt erst ermöglichen würde, eine Pflichtaufgabe zu erfüllen – anders geht es nicht.
NahverkehrsPraxis: Im Rahmen des Gezerres um das Deutschlandticket fordert die Bundespolitik immer wieder eine grundlegende Strukturreform der Verbündelandschaft. Spielt die bei dem Szenario „Deutschlandangebot 2040“ irgendeine Rolle?
Alexander Möller: Volker Wissing hat dieses Thema aufgerufen, aber substanziell eigentlich nichts Wesentliches dazu beigetragen, um die angemahnte Strukturreform anzuschieben. Er hätte als Bundesverkehrsminister die Instrumente dazu gehabt. Im gemeinsamen Papier von VDV, BSN und Mofair vor der Bundestagswahl sind sehr wohl die beiden Schwerpunkte Strukturreform und Standardisierung gesetzt worden. Und man muss es auch deutlich sagen: Die heutige ÖPNV-Struktur ist das Ergebnis von politischen Entscheidungen. Noch deutlicher: sie ist die Übersetzung von demokratisch legitimierter Verkehrspolitik in öffentliche Strukturen. Und genau hier liegt auch die Verantwortung dafür. Bei der Notwendigkeit einer Strukturreform ist sich die Branche längst einig und sie wird auch schon angegangen, so zum Beispiel durch die Gründung der D-TIX. Und es gibt sehr viele regionale Beispiele dafür, dass es im ÖPNV eine unglaubliche Aufbruchsstimmung gibt, Dinge neu zu machen. Das gilt aus meiner Sicht nicht nur für die Verbünde, sondern auch für die kommunalen Verkehrsunternehmen. Wir haben uns auf den Weg gemacht – auch wenn es dem einen oder anderen noch nicht schnell genug geht!
NahverkehrsPraxis: Wie geht es denn nun konkret weiter mit dem Gutachten?
Alexander Möller: Wir haben vorab in zwei sehr guten Terminen die kommunalen Spitzenverbände, die Länder und das BMV auf Arbeitsebene informiert. Die Kommunikation ist ebenso gestartet worden, und die wird auch sukzessive in die einzelnen Länder ausgerollt. Wir werden die nächsten 12 bis 18 Monate auf Bundes-, Länder- und kommunaler Ebene das Gutachten ausführlich vorstellen. Das wird ein echter Marathon, und ist mithin nichts für Menschen, die gerne kurzfristige Feuerwerke zünden. Denn es geht darum, politische Prozesse langfristig zu begleiten und dann möglichst viel für die Interessen der Branche zu erreichen. Im besten Fall wird unser Gutachten zu einer fundierten Grundlage für die Beratungen zwischen Bund und Ländern über den Modernisierungspakt. Beim Ausbau- und Modernisierungspakt von 2021 haben wir zu viel Zeit verloren mit unnötigen Zuständigkeitsdebatten.
Das Interview führte Thorsten Wagner