Urbanisierung ist ein unumkehrbarer Megatrend. Bereits seit mehr als zehn Jahren leben weltweit erstmals in der Menschheitsgeschichte mehr Menschen in Städten als auf dem Land. Zwar sehen wir die krassesten Auswüchse der Urbanisierung in Form wuchernder Megastädte bislang vor allem in den
Schwellen- und Entwicklungsländern. Aber auch in Deutschland zieht der Urbanisierungsgrad in den letzten Jahren wieder an. Mit steigenden Mieten und Kaufpreisen für
Immobilien kommt seit etwa fünf Jahren ein begleitender Trend hinzu: Vor allem Familien entscheiden sich immer häufiger, die Großstädte zu verlassen, um ins Umland zu ziehen. Für die Situation im Nah- und Regionalverkehr, die uns hier besonders interessiert, bedeutet das jedoch keineswegs Entspannung, im Gegenteil. In den Städten geht uns ohnehin der Platz aus, der Verkehr kollabiert, die Luft ist belastet und die Parkplatzsuche nimmt meist schon absurde Züge an. Nun kommen noch größere Pendlerströme dazu, die schon vor der Stadt im Stau stehen.
Transportleistung und Klimaschutz sind nur auf der Schiene optimal
Schienengebundener ÖPNV ist schon wegen seiner Kapazität und seines geringen Flächenverbrauch eine absolute Notwendigkeit. Eine zweispurige Hauptverkehrsstraße kann pro Stunde und Richtung beim aktuellen Besetzungsgrad von 1,1 bis 1,5 Personen pro Pkw kaum mehr als 3.000 Menschen befördern. Eine Stadtbahn im 90-Sekunden-Takt schafft dagegen bis zu 30.000 Menschen – lokal emissionsfrei und auch insgesamt deutlich klimaschonender.
Nun ist der Verkehrssektor insgesamt mit einem Fünftel Anteil an den gesamten deutschen Treibhausgasemissionen ein Klimasünder. Deshalb sieht die Regierung eine Senkung der verkehrsbedingten Emissionen bis 2030 um rund 40 % vor. Das ist nur noch ein Jahrzehnt. Wenn wir also als Bahnindustrie schon seit längerem darauf hinweisen, dass Klimaschutz die zentrale Zukunftsaufgabe ist, müssen wir im gleichen Atemzug hinzufügen: Diese Zukunft ist jetzt, wir müssen jetzt handeln. 2018 sahen wir die höchste Durchschnittstemperatur in Deutschland seit 1881, die höchste CO2-Konzentration seit 3 Millionen Jahren, die stärkste Gletscherschmelze und den stärksten Meeresspiegelanstieg. Im Kern müssen wir nun die Herausforderung meistern, ein wachsendes Verkehrsaufkommen in den urbanen Ballungsräumen mit niedrigeren Emissionen zu verbinden. Das geht nur mit mehr Verkehr auf der Schiene. Der Verkehrsträger Schiene stößt schon heute nur 0,8 % der durch Verkehr verursachten Treibhausgas-emissionen aus.
Aber das Grundgerüst für den ÖPNV muss stimmen. Verkehrsverlagerung auf die Schiene braucht Infrastruktur. Deutschland muss die Kraft haben, Ausbau und Digitalisierung der städtischen Schienennetze zu stemmen. Schicke Stadtbahnen mit viel digitaler Technik bringen niemandem etwas, wenn digitale Infrastruktur fehlt – und umgekehrt. Um die Vision vom emissionsfreien Verkehr realisieren zu können, muss unser Land, müssen unsere Städte die Kapazität der Schiene signifikant erhöhen. Dafür gibt es einen Schlüssel: Digitalisierung.
Effizientere Nutzung der Infrastruktur ist das Ziel
Stichwort Kapazität: Automatisierung beispielsweise erlaubt deutlich engere Taktung der Fahrzeuge. Bis zu 30 % weniger Energie benötigen automatische Fahrzeuge durch optimierte Beschleunigungs- und Bremsvorgänge. Ergebnis: mehr Klimaschutz, weniger Kosten, keine Wartezeiten, keine überfüllten Bahnen. Eine Alternative ist der Einsatz modernster Leit- und Sicherungstechnik auch im Nahverkehr.
Digitalisierung eröffnet aber vor allem neue Möglichkeiten, die kapitalintensive Infrastruktur besser und effizienter nutzbar zu machen. Unpünktliche und ausgefallene Bahnen, Warten auf zugigen Bahnsteigen – heute wird die Toleranz der Fahrgäste noch viel zu häufig überstrapaziert. Zu sehr locken dann die Alternativen, auch wenn sie weniger klimaschonend sind. Dabei sind Komfort, Zuverlässigkeit und Wirtschaftlichkeit im schienengebundenen Nahverkehr bestens machbar, wenn nur die Strecke verfügbar ist und Bahnen wie geplant fahren können. Unser Ziel muss sein, die Fahrbahn intelligent zu machen. Nun wäre es theoretisch keine Kunst, die Verfügbarkeit zu erhöhen, indem wir Wartung und Instandhaltung intensivierten und dabei die Kosten dafür in die Höhe treiben. Tatsächlich sind wir jedoch gefordert, die Verfügbarkeit zu erhöhen und gleichzeitig Lebenszykluskosten zu senken. Das funktioniert nur, indem wir Transparenz über den Zustand des Netzes herstellen und den Nahverkehrsbetreiber in die Lage versetzen, über den zukünftigen Zustand prognosefähig zu sein. Damit ich hier nicht falsch verstanden werde: Für ein nachhaltiges Lebenszyklusmanagement städtischer Netze müssen wir nicht nur die Welt der Daten erschließen. Ich will keinen Zweifel daran lassen, dass auch langlebige Komponenten zu einer intelligenten Fahrbahn gehören. Innovative Werkstoffe und moderne Simulationsprogramme tragen wesentlich zu niedrigeren Lebenszykluskosten bei.
Drei Bausteine für Digitalisierung: Datenerhebung, Analyse, Handlungsempfehlung
Wir wissen, dass die städtischen Verkehrsbetriebe unter enormem Kostendruck stehen, bei steigendem Erwartungsdruck ihrer Fahrgäste. Von den Lebenszykluskosten eines Netzes über die gesamte Nutzungsdauer entfallen schließlich zwei Drittel auf den Erhalt, nur ein Drittel auf die ursprüngliche Investition. Erfolgreiche Digitalisierung der Infrastruktur braucht drei Bausteine. Am Anfang steht die Datenerhebung für die notwendige Transparenz über den Zustand des Netzes. So hat beispielsweise die französische Hafenstadt Le Havre im vergangenen Jahr ein umfassendes Audit ihres 26 km langen Straßenbahnnetzes durchgeführt. Die Stammstrecke des erst fünf Jahre alten Netzes wird in der Hauptverkehrszeit im 3-Minuten-Takt befahren. Für eine komplette Abbildung des aktuellen Gleis- und Schienenzustands wurden in der Hafenstadt verschiedenste Messverfahren und -techniken verwendet. Durch die umfassende Vermessung verfügt der Verkehrsbetrieb nun über präzise Daten des Verschleißverhaltens, da die Infrastruktur in den Streckenabschnitten unterschiedlich stark beansprucht wird. Dadurch konnten zielführende Handlungsempfehlungen zur Optimierung des Instandhaltungszyklus und des Instandhaltungsbudgets abgeleitet werden.
Damit bin ich schon beim zweiten Baustein erfolgreicher Digitalisierung. Es kommt darauf an, aus Daten Informationen zu gewinnen und daraus Handlungsanweisungen abzuleiten, die die Verfügbarkeit der Strecke erhöhen. Werfen wir einen Blick in die Zukunft. Ein virtuell nachgebildetes Netz, der Realität voraus – so könnte ein System funktionieren, das Überraschungen in der Wirklichkeit verhindert, weil es sie dank künstlicher Intelligenz vorausberechnet. In Anbetracht der Möglichkeiten digitaler Technologie können wir uns eine Infrastruktur vorstellen, die so smart ist und ihren eigenen Zustand so gut kennt, dass sie automatisch Wartungsaktivitäten plant, um vorgegebene Verfügbarkeitsziele zu erreichen.
Mit maßgeschneiderten und ganzheitlichen Wartungs- und Instandhaltungslösungen für die Betreiber bin ich dann bei meinem dritten Baustein erfolgreicher Digitalisierung. Wir haben bereits heute mit präventiver Schienenpflege, moderner Sensorik zur Gleisüberwachung, lernenden Computerprogrammen und hochmobilen Wartungsmaschinen alle Möglichkeiten, die Verfügbarkeit auch kommunaler Netze zu vertretbaren Kosten hochzuhalten. Gut gepflegte Schienen sind übrigens auch deutlich leiser! Die Düsseldorfer Rheinbahn hat vor gut fünf Jahren als einer der ersten Verkehrsbetriebe überhaupt einen HSG-city für das präventive Hochgeschwindigkeitsschleifen eingesetzt. Das Verfahren glättet Oberflächenschäden wie Riffel, Schlupfwellen und Rissbildungen und vermindert so nachgewiesen die Lärmentwicklung durch laute Rollgeräusche und verlängert die Schienenliegedauer. Ein großer Vorteil der Technologie ist die hohe Betriebsgeschwindigkeit, durch die der HSG-city sogar im laufenden Fahrplan eingesetzt werden kann.
Schiene 4.0 in der Stadt ist machbar – und ein Muss, damit wir uns in der offensichtlich bevorzugten urbanen
Lebensumgebung wieder freier bewegen können. Erst recht ist der Verkehrsträger Schiene unverzichtbar, damit Klimaschutz nicht Wunschtraum, sondern gelebte Wirklichkeit ist.